Auf der Fahrt zum Flughafen wurde ein Reisebus angegriffen.
Winifried Thomas (74), ein britischer Pensionist aus Wigan, saß mit einer Gruppe Touristen in einem Kleinbus, als der Wagen auf dem Weg vom Urlaubsort Hammamet zum Flughafen Monastir in eine Art Straßensperre geriet: „Dutzende Männer belagerten den Bus, manche trugen Waffen. Sie hämmerten mit den Fäusten gegen die Scheiben, Steine flogen, Schüsse waren zu hören.“ Zum Glück habe der Fahrer couragiert Gas gegeben: „Er raste einfach weiter“, sagt Ex-Polizist Nick Edmond (53), der ebenfalls in dem Bus saß: „Wir sahen geplünderte Geschäfte, brennende Autos, Dutzende Jugendliche mit Benzinkanistern – Chaos.“
Erst am Flughafen in Monastir hätten sie sich halbwegs sicher gefühlt.
© Pressefoto Franz Neumayr
Mit großer Verspätung ist die Boeing 737 mit österreichischen und deutschen Touristen aus Tunesien an Bord am Samstagabend um 21.43 Uhr am Salzburger Flughafen gelandet.
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Aus der Maschine der Lauda Air sind 40 bis 50 Personen ausgestiegen. Die meisten zeigten sich hocherfreut, wieder in Österreich zu sein.
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„Samstag früh haben wir erfahren, dass wir sofort abreisen müssen, es war zu gefährlich. Auf der Busfahrt zum Flughafen haben wir brennende Tankstellen, Fabriken und am Boden liegende Männer gesehen. Da bekommt man schon Angst“, so die beiden Salzburgerinnen.
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„Ich habe Schüsse vor dem Hotel gehört. Es herrschte Krieg“, erzählt die Münchnerin.
Österreicher daheim
Via Monastir wurden auch die meisten der 500 österreichischen Urlauber ausgeflogen: „Alle, die nach Hause wollten“, sagt Josef Peterleithner von TUI zu ÖSTERREICH, „haben wir heim gebracht. Einige blieben aber freiwillig zurück.“ Die Urlauber wurden mit Sondermaschinen von der AUA, Lauda Air und Fly Niki nach Salzburg und Wien geflogen. Augenzeugen berichten von „Schüssen und Krieg“ (siehe Interview).
Fotograf getroffen
Starke Nerven brauchten jene Urlauber, die sich in Eigenregie zum Flughafen in die Hauptstadt durchschlugen.
In Tunis wird weiterhin gekämpft, immer wieder kommt es zu Schusswechseln zwischen vermummten Gruppen und der Polizei. Autos werden in Brand gesetzt, Geschäfte geplündert. Ein deutsch-französischer Fotograf wurde von einer Tränengas-Granate getroffen, lebensgefährlich verletzt.
Armee und die Ex-Leibgarde des nach Saudi Arabien geflüchteten Präsidenten Ben Ali lieferten sich heftige Schusswechsel. Der Chef der Garde und zahlreiche Offiziere wurden verhaftet. Ihnen wird Verschwörung vorgeworfen.
Keine Piloten
Auf dem Flughafen der Hauptstadt sitzen noch immer Touristen fest: „Die Lage ist angespannt, niemand darf den Flughafen verlassen. Den Restaurants geht das Essen aus“, schildern Urlauber.
Eveline Ruf, Sprecherin der Tunis Air, zu ÖSTERREICH: „Wir haben auch große Probleme mit den Crews. Nur ein Drittel der Mannschaft erschien zur Arbeit. Piloten und Stewardessen kamen einfach nicht durch, hatten schlicht Angst.“
An allen strategischen Punkten in Tunis ist die Armee stationiert: „Zusätzlich patrouillieren zivile Schutztrupps durch die Straßen. Sie haben Schlagstöcke, halten Autos an, suchen nach Waffen“, sagt Gudrun Sageder, österreichische Unternehmerin in Tunis: „Bemerkenswert ist die Solidarität der Bevölkerung mit dem Militär. Es gibt volle Sympathie für Soldaten“.
Karl Wendl
"Ich sag Polizisten auf Menschen schießen"
Adel D. und birgit H. waren in Tunesien.
ÖSTERREICH: Herr D., wie erlebten Sie den Aufstand in Tunesien?
Adel D.: Ich habe alles mitbekommen, von den Demonstrationen bis zur ärgsten Polizeiwillkür. Wir hatten große Angst.
ÖSTERREICH: Was meinen Sie mit „Polizeiwillkür“?
D.: Ich sah zwei Leute aus dem Gefängnis in Monastir fliehen. Sie wurden in den Rücken geschossen, waren tot. Tausende demonstrierten auf den Straßen. Die Polizei ging gegen sie vor.
ÖSTERREICH: Konnte man auf die Straße gehen?
D.: Ab 17 Uhr ist Ausgangssperre. Wer sich danach blicken lässt, wird eingesperrt. Auf den Straßen stehen Bewaffnete herum, es brennt überall.
Birgit H.: Die Fahrt zum Flughafen war ein Abenteuer. Ich sah Raffinerien brennen, schrecklich. Am Flughafen herrschte totales Chaos.
(jem)
„Zorn der Straße fegte Diktator weg“
Experte Peter Scholl-Latour analysiert in ÖSTERREICH.
ÖSTERREICH: Hat Sie der Sturz von Präsident Ben Ali in Tunesien überrascht?
Peter Scholl-Latour: Ja, vor allem der rasche Ausgang des Aufstandes. Das ist überraschend und eine echte Wende. Zum ersten Mal kippte eine orientalische Diktatur durch den Druck der Straße. Möglich war das nur, weil das gesamte Militär sich zurückgehalten hat. Im Iran, wo ja auch Hunderttausende wochenlang kämpften, funktionierte das nicht. Tunesien könnte jetzt ein Präzedenzfall für vergleichbare Diktaturen sein.
Welches Land könnte als nächstes kippen?
ÖSTERREICH: Welcher Despot könnte der nächste sein, Libyens Muammar Gaddafi?
Scholl-Latour: Gaddafi (seit 40 Jahren an der Macht) ist ein besonderer Fall. Er hat viel Erdöl, kann mit diesem Reichtum seine Leute zufriedenstellen. Es herrscht in Libyen auch keine Not. Die größeren Gefahren lauern eher in Ägypten, Marokko, Jordanien und in Algerien. Algerien hat schon einen Bürgerkrieg mit 150.000 Toten hinter sich. Das Volk wird heute vom Militär mit brutalsten Mitteln niedergedrückt.
Ist Tunesien-Aufstand auch ein Sieg der Islamisten?
ÖSTERREICH: Welche Rolle spielen die Islamisten?
Scholl-Latour: Das ist die große Frage. Bisher war Tunesien ein sehr offenes Land, die Frauen brauchten sich nicht zu verschleiern, Alkohol ist erlaubt, das allgemeine Leben stand nicht unter strikten islamischen Regeln. Es ist durchaus möglich, dass die islamischen Kräfte nun als stärkste Kraft aus diesem Chaos hervorgehen – sie sind zumindest bestens organisiert.
ÖSTERREICH: Wie geht es mit dem Land nun weiter?
Scholl-Latour: Die Armee wird dafür sorgen, dass nicht völliges Chaos entsteht. Derzeit ist aber weit und breit keine neue Führungspersönlichkeit zu sehen. Alle tunesischen Intellektuellen haben sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten, in denen Ben Ali regiert hat, nach Frankreich abgesetzt. Von den angekündigten freien Wahlen innerhalb der nächsten sechs Monate ist eher wenig zu halten. Den neuen Machthabern muss es gelingen, den Zorn der zukunftslosen Jugend zu besänftigen. Es darf keine soziale Blindheit mehr geben.
Was kann Europa in dieser Lage tun?
ÖSTERREICH: Befürchten Sie einen Flächenbrand?
Scholl-Latour: Jetzt noch nicht. Aber diese Region könnte für Europa noch sehr gefährlich werden. Dann müssten wir unsere Freiheit am Atlas verteidigen und nicht am Hindukusch. Leider ist Europa bis heute keine geschlossene Macht – weder politisch noch militärisch.
Interview: Karl Wendl