Ägypten-Tagebuch

Wendl: "So erlebte ich die Hölle in Ägypten"

05.02.2011

ÖSTERREICH-Reporter Karl Wendl dokumentiert den Sturm des Volkes.

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© Karl Wendl
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11 Tage des Zorns, die Ägypten und die gesamte arabische Welt verändern werden. ÖSTERREICH-Reporter Karl Wendl erlebte den Sturm des Volkes, die Plünderungen, das Chaos, wurde selbst überfallen. Sein Tagebuch...

Freitag, 28. 1.: Die blutige Revolution beginnt

Der Zorn ist nicht mehr zu halten
Ich stehe vor der großen Moschee in Gizeh. Kurz zuvor  haben sich noch Demonstranten eine Straßenschlacht mit der Polizei geliefert. Tränengas, Wasserwerfer, Gummigeschosse. Jetzt: Ausgebrannte Polizeitransporter, die Polizei auf der Flucht Irgendwer öffnet die Gefängnistore. Tausende Häftlinge kommen frei. Panik in der 20-Millionen Stadt. Gleichzeitig besetzen zehntausende Demonstranten den Tahrir-Platz, fordern: „Mubarak muß weg“.

Samstag, 29. 1.: Das Chaos bricht in Kairo aus

Internet tot, MMS Funktionen ebenso
Nur das Handy funkioniert. Ich rufe Gisela Fritz an, eine Kärntner Juristin, seit 16 Jahren in Kairo: „Sie plündern überall, rauben Banken aus, Geschäfte –die geflohenen Häftlinge ziehen in Horden durch die Straßen, auch hier waren sie schon“, schreit sie ins Telefon. Ich fahre ins Zentrum. Ein Schlachtfeld. Schüsse. Verletzte. Das Hauptquartier der Mubarak-Partei: Ausgebrannt. Rauchschwaden. Ein Demonstrant spricht mich an: „Wir haben keine Angst mehr“.

Sonntag, 30. 1.: Tahrir-Platz wird Zentrum

Tahrir-Platz wird erobert
Der Tahrir-Platz gehört den Mubarak-Gegnern: „Wir gehen erst weg, wenn der Präsident verschwindet“, zeigt Tamer el-Said, 38, ägyptischer Filmemacher, Entschlossenheit. Sie bauen Zelte auf, Verpflegungsstationen, fliegende Händler. Ahmed Mazhar (35), ein Arzt, versorgt unter freiem Himmel Schnittwunden: „Vormittags im Krankenhaus. Nachmittags hier“, sagt er.

Montag, 31. 1.: "Ich befürchte ein Blutbad"

Besuch beim Hoffnungsträger Ägyptens
Mohammed el-Baradei, 62, könnte das Gesicht der Revolution sein - Friedensnobelpreisträger, Ex-Chef der Atomenergiebehörde in Wien. Im Westen bejubelt. In Ägypten totgeschwiegen. Ich besuche ihn in seinem Haus nahe der Pyramiden. Palmen, viel Grün, eine stille Oase, kaum gesichert.  El-Baradeis Sohn empfängt mich.  Er ist unrasiert, sieht erschöpft aus: „Die Situation wird immer dramatischer“, sagte er. Später höre ich seinen Vater im BBC-Radio: „Ich befürchte ein Blutbad“.

Dienstag, 1. 2.: Der Marsch der Millionen

Tag der Entscheidung
Marsch der Millionen. Studenten, Anwälte, Frauen, Kinder, Alte Junge. Die ganze Mittelschicht des Landes ist auf den Beinen. Selbst der Schauspieler Omar Sharif (Dr. Schiwago) humpelt auf den Tahrir-Platz: „Ich unterstütze die Opposition“. Es ist ein einziger, gewaltiger Schrei nach Freiheit. Der Sieg scheint ganz nah: „Ich bin so stolz auf mein Volk“, jubelt Nadia Fahrid, 43, eine Halb-Österreicherin.

Mittwoch, 2. 2.: Mubarak will König vom Nil bleiben

Die Gewaltorgie startet
Hosni Mubarak (82), der greise Präsident, klammert sich an seinem Stuhl, will die Gewaltorgie. Ich stehe auf der Qasr-el-Nil-Brücke. Direkt unter mir, auf der Nil-Corniche, jagt eine Horde Reiter auf Pferden und Kamelen in Richtung Demonstranten. Die Reiter haben Schlagstöcke, Säbel, schreien: „Mubarak muß bleiben“. Gleichzeitig strömen bezahlte Mubarak- Schlägertrupps heran. Die Armee lässt sie durch. Faustgroße Steine fliegen. Reiter werden von ihren Kamelen geholt, verprügelt. Ich sehe Verletzte. Zertrümmerte Schädel. Mädchen weinen:“ So kriminell ist Mubarak“. Molotow-Cocktails fliegen, gehen zischend in Flammen auf. Ich flüchte, sehe, wie der Mob einen US-Kameramann auf der 6. Oktober-Brücke packt, über die Brüstung wirft.

Donnerstag, 3. 2.: Die traurige Bilanz der Kämpfe

Der Jubel ist weg
Zufahrtstraßen zum Platz der Befreiung sind mit Wellblech und Stahlstangen verbarrikadiert. Millionen Steine liegen auf der Straße, der Asphalt ist von Molotow-Cocktails geschwärzt. Blut ist zu sehen. Acht Menschen tot, 1600 verletzt. Bilanz der Nacht.

Freitag, 4. 2.: Ich werde gefangen genommen

Bange Minuten in Kairo
Soldaten haben eine Pufferzone zwischen den Hass-Parteien errichtet. Endlich. Aber: Jetzt machen Mubarak-Schergen Jagd auf ausländische Journalisten: „Wir schlitzen euch die Kehle auf.  Joey, mein Taxifahrer, gerät in eine Straßensperre. Mehr als ein Dutzend Bewaffnete. Schlagstöcke, Macheten. Ich werde aus dem Wagen gezerrt, sie drücken mich in den Staub, knien auf mein Kreuz,  halten mir Mubarak-Poster vors Gesicht. Von allen Seiten strömen üble Gestalten heran. Ich sehe in ihren Blicken: Verachtung, Wut, Zorn. Ein junger Soldat rettet mich: „Sorry“, entschuldigt er sich für seine Landsleute.

Samstag, 5. 2.: Die Lage in Kairo beruhigt sich

Endlich kehrt Normalität ein
Erstmals eine Art Normalität in der Stadt. Die Geschäfte geöffnet, Banken arbeiten. Nur die Schulen sind zu. Ich treffe Ayman, 18jähriger Gymnasiast. Er besucht die Deutsche Schule in Kairo-Dokki. Sechs Tage war er am Tahrir-Platz. Jetzt lernt er wieder. Ab heute, Sonntag, hätte er eigentlich Matura: „Abgesagt“, sagt er traurig Ayman: „Alle unsere Lehrer sind weg“.

Karl Wendl

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